Von John Bull bis Mr. Bean – Gefeierte Verlierer
Christian Schnee
Chapter 6 in Das Vereinigte Königreich, 2022, pp 135-147 from Springer
Abstract:
Zusammenfassung Dreispitz und Schild mit den Symbolen der Union Flagge lehnen an der Klippe. Davorsitzend, mit blonden Locken und korinthischem Helm eine junge Frau, deren Blick über die See schweift. Für die Römer vor 2000 Jahren war die Figur der Britannia das Emblem der britischen Inseln. Als der Stuartkönig James VI. von Schottland 1603 den Thron von England übernahm, marschierte die Gestalt der Britannia im Londoner Krönungsumzug mit. Im 18. Jahrhundert bekam die Ikone Gesellschaft von einem untersetzten, übergewichtigen Mann in Begleitung einer Dogge. Es war John Bull. Sein Gesicht war rund, die Backen rosa und auf dem massigen Kopf trug er einen Zylinder. Sein Frack spannte ebenso wie die Kniebundhose und die Weste war in Rot, Weiß und Blau, den Farben seines Landes, gefärbt. John Bulls zur Schau getragener Dickkopf, die Stärke, Männlichkeit sowie sein Draufgängertum personifizierten das Selbstbewusstsein des Empire (Matthews 2000). Mit der Zeit wandelte sich das nationale Image und eine neue Ikone verkörperte das Selbstbild der Briten. So wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus John Bull der „little man“, ein britischer Otto-Normalverbraucher, eine unauffällige Gestalt mit Melone und Regenschirm, die unter den Nickligkeiten des Alltags leidet, unter der Last der Steuern stöhnt und nichts übrig hat für heroische und kostspielige Aspirationen seiner Regierung. Als häuslichen Mann, frei von archaischem Heldenmut, zeichnete Sidney Strube, der künstlerische Vater des „little man“ seine Figur in den Karikaturen für die Zeitung Express (Brookes 1985). Weitere hundert Jahre sind vergangen und die Souvenierhändler in London drapieren die Schaufenster ihrer Geschäfte mit Bildern und Statuetten der Royals: Neben der Queen und dem Herzog von Edinburgh grinst Prinz Charles und lächelt Lady Diana auf Ansichtskarten, die im Regal gleich neben den Plastikfiguren von Harry und William platziert sind. Der einzige Bürgerliche, dessen Abbild in den Buden vor dem British Museum und den Läden am Trafalgar Square zwischen dem Defilee der gekrönten Häupter hervorlugt, ist ein Schauspieler ganz skurriler Natur. Es ist Rowan Atkinson – abgelichtet in grauem Jackett mit roter Krawatte, das Gesicht zur Grimasse verzogen und die Augen verdreht – in seiner Paraderolle des Mr. Bean. Der ist in den vergangenen Jahrzehnten auf der Welt wie kein Zweiter zum Sinnbild für die Eigenschaften geworden, die als typisch britisch gelten. In Bean wird Naivität aufgewogen mit Cleverness, um die Herausforderungen des Alltags zu überstehen. Ist er überfordert, zeigt er Improvisationstalent. Mit Chuzpe rettet er sich aus jedem selbstverschuldeten Dilemma und entkommt hausgemachten Bedrohungen. Er ist einer, der, egal wie schlimm es kommt, nicht aufgibt, sich nicht unterkriegen lässt und am Ende nicht für seinen Erfolg, sondern seiner Findigkeit und Tapferkeit wegen auf die Sympathie seines Publikums hoffen kann. So ist Mr. Bean nicht nur für Touristen zum Synonym für Eigenschaften geworden, mit denen sich Briten leichter identifizieren als mit den Attributen des grobschlächtigen John Bull und der waffenklirrenden Britannia. Misslichkeiten einer ungerechten und feindseligen Welt ertragen, nicht klagen und Kampfgeist zeigen: Diese Haltung haben die Briten zu dunkelsten Stunden im Zweiten Weltkrieg in einen Satz gepresst, der auf Postkarten, Schals und Grillschürzen in den Souveniershops bis heute überall zu haben ist. „Keep calm and carry on“ – Bleib gelassen und mach einfach weiter, steht da geschrieben. Der Slogan klingt nicht nach nationaler Überlegenheit, sondern appelliert vielmehr an die Geschundenen, die auch in der Not nicht nachgeben, sondern daran glauben, dass es am Ende schon irgendwie gut geht. Und so hat auch die Wertschätzung für Mr. Bean nichts mit Fähigkeiten und Erfolg zu tun, die ihn ohnehin nicht auszeichnen. Es geht um Mumm und Stehvermögen und die “stiff upper lip“, zu der sich Briten einst ermahnten. Eine Redewendung, die sich am besten mit „Halt die Ohren steif“ übersetzen lässt. Offenbar honoriert das Publikum im 21. Jahrhundert Charakterzüge, die vor zweihundert Jahren bereits die Londoner verzückten, als die Geschichten über seine Reisen durch Afrika aus dem Entdecker und Missionar David Livingstone eine mythische Figur machten, der neben den anderen Großen der Nation in der Westminster Abtei ein Grabmal errichtet wurde (Holmes 1993). Dabei war Livingstone ein Versager. Während seiner jahrelangen Arbeit als Missionar in Afrika brachte er es auf eine einzige dokumentierte Bekehrung und dieser Konvertit ließ sich trotz Bibelstudiums zeitlebens den Glauben an die mystische Macht der Regenmacher seines Stammes nicht nehmen (Horne 1999). Auch für den Entdecker reihte sich eine Enttäuschung an die andere. Mit seiner Prognose, der Sambesi biete sich für den Schiffsverkehr in den Kolonien an, lag Livingstone falsch, weil er die Stromschnellen im Fluss nicht berücksichtigt hatte. Und die Expedition im Auftrag der Regierung mit dem Ziel, die Quelle des Nils zu finden, endete im Desaster. Sein Arzt John Kirk ihn einen verantwortungslosen Anführer und konstatierte, Livingstone habe den Verstand verloren (Wright 2008). Von seinen Begleitern verlassen, ohne Medizin und Proviant, so irrte Livingstone halluzinierend durch Afrika, von Malariaattacken und einer Choleraerkrankung ausgemergelt, mit eiternden Wunden an den Füßen, zuletzt zahnlos. Als ihn ein Journalist des New York Harold nach langer Suche am Ufer des Tanganjikasees fand und ihn zum Abbruch seiner Mission bewegen wollte, weigerte sich Livingstone beharrlich. Er machte weiter und ließ wissen: „Ich bin bereit, überall hinzugehen, solange es nur vorangeht“ (zitiert in Chalmers 2011, S. 97). Das Publikum in London war bewegt und inspiriert von dem Mann, der mit Willensstärke und Hartnäckigkeit den Leiden widerstand (Blaikie 1913). In Livingstone drückt sich die Liebe der Briten für den kühnen Verlierer aus, der beherzt der Niederlage entgegengeht. Inkompetenz und Scheitern spielen im Urteil von Zeitgenossen und Nachgeborenen keine Rolle, solange der Protagonist den richtigen Sportsgeist zeigt, die Zähne zusammenbeißt und nicht aufgibt.
Date: 2022
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