Hundert Punkte für mehr Beschäftigung
Horst Siebert
No 264, Kiel Discussion Papers from Kiel Institute for the World Economy (IfW Kiel)
Abstract:
Mehr Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit kann es in einer Marktwirtschaft nur geben, wenn die Arbeitsproduktivität, die Wertschöpfung pro Beschäftigten, stärker steigt als die Löhne. Ist dagegen die Lohnzunahme größer als der Produktivitätsfortschritt, so bauen die Unternehmen Arbeitsplätze ab. Eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik kann, soweit sie an den Gütermärkten ansetzt und das Umfeld für die Unternehmen verbessert, die Arbeitsproduktivität indirekt anheben. Sie löst aber nicht das grundsätzliche Problem der Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt. Es kann heute nicht mehr als selbstverständlich unterstellt werden, daß die Einkommen der Arbeitnehmer wie in der Vergangenheit zunehmen. Eine realistische Einschätzung der Zunahme der Arbeitsproduktivität ist geboten: In Westdeutschland ist die statistisch beobachtete Produktivität der Arbeit - gemessen an der Stundenproduktivität - seit 1980 lediglich mit gut 2 vH pro Jahr gestiegen, deutlich weniger als in den sechziger Jahren mit 5,4 vH und in den siebziger Jahren mit über 4 vH. Die Lohnpolitik kann nicht davon ausgehen, daß Arbeitskosten beliebig überwälzt werden können. Vor allem ist in einem der drei bedeutendsten Exportländer der Welt zu berücksichtigen, daß das verarbeitende Gewerbe, im wesentlichen die Exportwirtschaft, oft einen geringeren Überwälzungsspielraum als die Bereiche hat, die lediglich inländische Güter herstellen. Das institutionelle Regelwerk des Arbeitsmarktes steuert falsch. Den Tarifparteien wurde im Rahmen der Tarifautonomie die Gestaltung der Tarifverträge und zahlreicher Aspekte des Arbeitslebens zugewiesen. Im Grunde muß für den Arbeitsmarkt gelten: Wer die Tarife (die Löhne) setzt, ist auch für die Mengen (also Beschäftigung und Arbeitslosigkeit) verantwortlich. Alle Ansatzpunkte am Arbeitsmarkt werden fehlschlagen, die daran vorbeigehen, daß die Nachfrage nach Arbeitskräften letzten Endes auf den Märkten bestimmt wird. Auch der Arbeitsmarkt ist ein Markt — mit all den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage. Die Funktionsweise des komplexen Regelwerkes "Arbeitsmarkt" ist eng mit den Regelwerken "Steuern/Abgaben" und "Soziale Sicherungssysteme" verbunden. Es gilt, diese Systemzusammenhänge zwischen den drei Regelwerken zu erkennen. Die drei Regelwerke bewegen sich in einem "circulus vitiosus". So hat der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme in den letzten 25 Jahren wie eine Steuer auf den Faktor Arbeit gewirkt und die Lohnstruktur und die Lohnf indungsprozesse beeinträchtigt. Über komplexe Mechanismen schwächt dies die Nachfrage nach Arbeitskräften und trägt zur Arbeitslosigkeit bei. Damit steigen die Kosten der sozialen Sicherung, was wiederum die Nachfrage nach Arbeitskräften schwächt. Treffen diese interdependenten Regelwerke auf Veränderungen wie einen weltwirtschaftlichen Umbruch, wie eine Verwerfung der deutschen Finanzpolitik durch die deutsche Vereinigung und wie eine geänderte Altersstruktur der Bevölkerung, so kann das System nicht mehr funktionieren; es muß sich weiter weg von der Vollbeschäftigung entfernen. Die Politik muß wieder in Ordnungen denken. Alle gesetzlichen Regelungen sollten systematisch daraufhin durchgekämmt werden, ob sie die Nachfrage nach Arbeitskräften schwächen und ob dies angesichts der hohen Arbeitslosigkeit noch gerechtfertigt ist. So sollten Arbeitslose das Recht haben, sich mit Einstiegstarifen (von 20 vH unter Tarif) in den Arbeitsmarkt wieder einzuklinken; Allgemeinverbindlicherklärungen müssen unterbleiben. Die sozialen Sicherungssysteme sollten so umgebaut werden, daß sie dem einzelnen die großen Risiken abnehmen. Eine effiziente Gestaltung ist auch deshalb geboten, weil wegen des Altersaufbaus der Bevölkerung die Lohnnebenkosten sonst weiter anschwellen werden. Die Prognosen für die zukünftigen Beiträge zur Sozialversicherung bewegen sich bei Sätzen bis zu 50 vH des Bruttoarbeitsentgelts. Die produktive Generation, deren Anteil an der Bevölkerung zurückgeht, müßte dann nicht nur die Hälfte ihres Bruttoarbeitseinkommens für die soziale Sicherung aufwenden, sondern zusätzlich noch die Steuern zahlen. Eine solche Situation ist nicht tragbar.
Date: 1996
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