Sackgasse Generationenvertrag: Wege aus der Krise der Altersversorgung
Joachim Ragnitz,
Gundula Roßbach,
Axel Börsch-Supan,
Martin Hellwig,
Eckhard Janeba,
Martin Werding,
Arthur Seibold,
Markus Roth,
Andreas Richter,
Jörg Schiller,
Michaela Engelmeier,
Sebastian Dullien,
Anja Piel and
Melanie Häner-Müller
ifo Schnelldienst, 2024, vol. 77, issue 12, 03-39
Abstract:
Joachim Ragnitz, ifo Dresden, diskutiert die Herausforderungen der umlagefinanzierten Rentenversicherung in Deutschland, insbesondere angesichts des demografischen Wandels. Ohne grundlegende Reformen müssten entweder Rentenniveau und Rentenansprüche gesenkt oder die Beitragslast erhöht werden, was vor allem die jüngeren Generationen belaste. Mögliche Lösungsansätze seien eine stärkere kapitalgedeckte Vorsorge sowie Maßnahmen zur Erhöhung der Geburtenrate, da die aktuelle demografische Entwicklung langfristig die Finanzierungsprobleme verschärft. Gundula Roßbach, Gesetzliche Rentenversicherung Bund, sieht den Generationenvertrag als Kern der umlagefinanzierten Rentenversicherung. Dieser habe sich zwar historisch bewährt, doch angesichts der Alterung der Bevölkerung seien Reformen und Anpassungen notwendig. Die Diskussion drehe sich um die Frage, ob das bestehende Drei-Säulen-Modell erhalten bleiben oder die gesetzliche Rentenversicherung beispielsweise nach dem Vorbild Österreichs gestärkt werden sollte. Wichtig sei eine klare Orientierung, um eine nachhaltige und gerechte Altersvorsorge zu sichern. Axel Börsch-Supan, Martin Hellwig und Eckhard Janeba, Wissenschaftlicher Beirat beim BMWK, ordnen den demografischen Wandel in einen größeren Kontext ein, der die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft bei einer alternden Gesellschaft betrachtet. Die Verknappung von Arbeitskräften führe zu Herausforderungen in der Altersversorgung, sinkendem Wirtschaftswachstum und sozialen Spannungen. Vorgeschlagene Lösungen umfassen die Förderung von Erwerbstätigkeit älterer Menschen und Frauen, die Integration von Zuwanderern sowie Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Die Ampel-Koalition habe in der Rentenpolitik nicht viel bewegt. Aus Sicht von Martin Werding, Ruhr-Universität Bochum und Sachverständigenrat, gilt für Teile dieser Reformpläne: Das ist gut so! Die geplante „Haltelinie“ für das Sicherungsniveau gesetzlicher Renten hätte eine Abkehr vom langjährigen Reformkurs bedeutet und jüngere und zukünftige Versicherte einseitig belastet. Für andere Teile sei es schade. Schnelle Entscheidungen über neue Rahmenbedingungen der ergänzenden kapitalgedeckten Altersvorsorge wären wünschenswert. Sie sind ein wichtiger Bestandteil ursachengerechter Anpassungen der Alterssicherung an die demografische Entwicklung. Das gleiche gelte für eine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze bei fortgesetztem Anstieg der Lebenserwartung. Da diese beiden Reformelemente ihre Wirkungen erst langfristig entfalten, müssten zusätzliche Reformschritte ins Auge gefasst werden, um den absehbaren Anstieg von Ausgaben und Beitragssätzen der Rentenversicherung kurz- bis mittelfristig zu begrenzen. Die gesetzliche Rentenversicherung steht auch aus Sicht von Arthur Seibold, Universität Mannheim, aufgrund des demografischen Wandels vor erheblichen Finanzierungsproblemen, die durch sinkende Geburtenraten und steigende Lebenserwartung verursacht werden. Die wirksamste Maßnahme zur Stabilisierung des Systems sei laut empirischen Studien die Anpassung der Altersgrenzen, da finanzielle Anreize allein nur geringe Effekte zeigen. Reformen sollten dabei Verteilungsaspekte berücksichtigen, um soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Markus Roth, Philipps-Universität Marburg, wirft einen Blick auf das pAV-Reformgesetz, das eine Flexibilisierung der privaten Altersvorsorge durch renditeorientierte Optionen wie Aktienfonds und Altersvorsorgedepots vorsieht, um die Eigenverantwortung der Bürger zu stärken. Die Kapitaldeckung des Systems sei im internationalen Vergleich niedrig, und Reformen wie eine automatische Einbeziehung in Altersvorsorgeverträge könnten eine stärkere Verbreitung und höhere Renteneinkommen fördern. Mit steuerlichen Anreizen und kosteneffizienten Anlageoptionen könnte langfristig eine generationengerechte und nachhaltige Altersvorsorge ermöglicht werden. Andreas Richter, LMU München, und Jörg Schiller, Universität Hohenheim setzen sich ebenfalls mit dem pAV-Reformgesetz auseinander und heben die Notwendigkeit hervor, das umlagefinanzierte System durch kapitalgedeckte Komponenten zu ergänzen, und plädieren für eine obligatorische private Vorsorge. Sie betonen, dass lebenslange Renten essenziell seien, um Altersarmut vorzubeugen, während der aktuelle Reformvorschlag Flexibilität in der Auszahlungsphase befürworte, was jedoch mit Risiken verbunden sei. Michaela Engelmeier, Sozialverband Deutschland, sieht den Generationenvertrag und die Altersvorsorge in Deutschland nicht in einer Krise. Es seien allerdings Reformen nötig, um generationengerecht zu bleiben. Es wird vorgeschlagen, die gesetzliche Rentenversicherung in eine Erwerbstätigenversicherung auszuweiten und die Einnahmeseite durch bessere Arbeitsmarktpolitik zu stärken. Zusätzlich wird betont, dass die umlagefinanzierte Rente mit ihren solidarischen Elementen effektiver sei als kapitalgedeckte Modelle. Sebastian Dullien, HTW Berlin und Institut für Makroökonomie der Hans-Böckler-Stiftung, sieht in den absehbar steigenden Beitragsätze zur gesetzlichen Rentenversicherung weder mikro- noch makroökonomisch ein echtes Problem, da die Einzahlungen als obligatorische Vorsorge zu betrachten seien. Der absehbare Anstieg des Bundeszuschusses hingegen wäre zu gering, um ein ernsthaftes Problem darzustellen. Eine Betrachtung der internen Rendite der Rentenversicherung zeige zudem keine ernsthafte Benachteiligung jüngerer Generationen über jenen Zeitraum an, der sich einigermaßen seriös mit aktuellen Rentenmodellen abbilden lasse. Anja Piel, Deutscher Gewerkschaftsbund, kritisiert die Absenkung des Rentenniveaus und die unzureichende Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung, die zu sozialer Ungerechtigkeit und Altersarmut führen könnten. Sie fordert eine gerechtere Verteilung des Wohlstands, eine Stärkung des sozialen Ausgleichs und eine höhere Erwerbsbeteiligung, um die Rentenversicherung als solidarisches System nachhaltig zu sichern. Melanie Häner-Müller, Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik, Luzern, stellt das Schweizer Drei-Säulen-Modell vor, das auf dem Fundament der beruflichen Vorsorge beruht. Eine starke zweite Säule bietet heute wesentliche Vorteile für den Staatshaushalt und die Volkswirtschaft insgesamt. Doch auch die Schweizer Altersvorsorge sei nicht immun gegen die Folgen des demografischen Wandels. Aufgrund der bestehenden politökonomischen Anreizstrukturen brauche es eine gewisse Entpolitisierung der Altersvorsorge.
Keywords: Altersvorsorge; Sozialvertrag; Sozialpolitik; Soziale Gerechtigkeit; Overlapping Generations; Generationengerechtigkeit; Gesetzliche Rentenversicherung (search for similar items in EconPapers)
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Date: 2024
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